Einheitstag und die Diversifizierung der Erinnerung
Für das Kulturmagazin 54books, das ab jetzt auch auf Bluesky zu finden ist, habe ich mich mit der Debatte um den buchpreisnominierten Debütroman Gittersee (S. Fischer 2023) von Charlotte Gneuß beschäftigt. Mein letzter Post auf Substack liegt einige Zeit zurück, daher möchte ich den Newsletter nutzen, um kurz auf einige weitere interessante neuere literarische und historische Texte zum Thema einzugehen. Das Buch von Gneuß ist Teil einer ziemlich überwältigenden Menge aktueller Bücher, die sich mit ostdeutscher Geschichte beschäftigen oder Erinnerungen an die Vor- und Nachwendezeit thematisieren. Unweigerlich wird darin und darüber eine deutsche culture war ausgetragen, die bislang zu wenig verhandelte (Gewalt-)Geschichten zum Gegenstand hat, aber auch breitere ideologische Konflikte fortsetzt. So wirkt es fast ironisch, dass selbst ein deutlich um Abwägung und Historisierung bemühter DDR-Roman wie Gittersee sich nicht der scharfen Politisierung entziehen konnte.
Von unterschiedlichen Positionen aus wird die Wiedervereinigung derzeit häufig als Geschichte eines Scheiterns erzählt. Damit einher geht oft eine merkwürdige identitätspolitische Aufladung des Ostens, die ‘die Ostdeutschen’ als kolonialisierte Bevölkerung entdeckt und gegen angeblich ‘andere’ marginalisierte oder postmigrantische Gruppen ausspielt.
So war es auch der nach seiner Selbstbeschreibung “zorngesättigt[e]” Bestsellerautor Dirk Oschmann, der in seinem Sachbuch ostdeutsche Männer als “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe” ins Spiel brachte. Im kontrafaktischen deutschidentitären Ostdiskurs ist von vermeintlichen kommunitaristischen Chancen die Rede, die in der Wendezeit “vertan” worden seien. Eine reformwillige, aber eigensinnige ostdeutsche Bevölkerung habe man durch westliche Intervention verprellt, was bis heute zu Widerständen führen würde. Solche Erklärmuster, die durchaus auch an ältere Deutungen des Scheiterns der Weimarer Republik erinnern, können interessante Fragen über die Effekte von Modernisierung und sozialer Transformation aufwerfen, aber auch genauere Blicke auf das soziale und kulturelle Geschehen vor und nach der Wende verstellen.
Eine interessante Reperspektivierung bietet der rückblickende Fokus auf Rechtsradikalismus vor und nach der Wende. Ein eben erschienener Beitrag zum Sammelband Erinnerungskämpfe – Neues deutsches Geschichtsbewusstsein (Hg. Jürgen Zimmerer, Reclam 2023) von Katharina Warda und Patrice Poutrus weist auf vergessenen Rassismus in der DDR hin, bezieht als Ursache für die Gewalt der Wendejahre aber auch die Rolle gesamtdeutscher nationalistischer Diskurse ein, die durch die Wiedervereinigung befeuert wurden. Nach Warda und Poutrus bleibt der Osten seit den 1990ern damit “zentrale[r] Austragungsort” eines handfesten Konflikts zwischen Nationalismus und Liberalismus in Deutschland.
Dieser Konflikt weist in seiner Fortsetzung ost- und gesamtdeutscher Sozialgeschichte über postkoloniale Zuschreibungen hinaus, was Oschmann mit seiner These von der “westdeutschen Erfindung” des Ostens behauptet hat. Trotzdem handelt es sich zentral um einen Deutungskonflikt über Geschichte und Identität, der kulturell stattfindet, was sich beispielsweise in den gegensätzlichen DDR-Projektionen der Neuen Rechten widerspiegelt.
Ein anderes gesamtdeutsches Scheitern als Oschmann erzählen die neuen Texte der sogenannten “Baseballschlägerjahre”, erheben aus der Erinnerung an eine nicht nur von ihm völlig ignorierte traumatische Vergangenheit aber ebenfalls Ansprüche auf Gerechtigkeit. Der empfehlenswerte neue MDR-Podcast Springerstiefel – Fascho oder Punk? recherchiert die Geschichte verschiedener Subkulturen der 1990er und fragt nach der Entstehung rechter Gewalt in ostdeutschen jugendlichen Milieus aus dieser Zeit. Hendrik Bolz, Autor der Nullerjahre (KiWi 2022), setzt darin zusammen mit dem Journalisten Don Pablo Mulemba ein doppelt autobiografisches Projekt fort, das den Spuren rechter Gewalt lange vor dem Rechtspopulismus der AfD nachgeht. Ohne sie gleichzusetzen, kommen darin Täter, aber auch nicht weiße Opfer und linke Widerstände zur Sprache. Das macht ostdeutsche Hierarchien deutlich, die bis vor 1989 zurückreichen, aber auch die gesamtdeutsche Verdrängung zeitgenössischer Gewalt.
Ästhetisch ganz anders geht Kathrin Rögglas ebenfalls buchpreisnominierter Gerichtsroman Laufendes Verfahren (S. Fischer 2023) vor, der an den NSU-Prozess erinnert, in dem 2018 das Urteil gesprochen worden ist. In einer leider ziemlich hölzernen Verknüpfung von fiktiven Figuren mit gesellschaftlichen Narrativen und metafiktionaler Reflexion erzählt das Buch der österreichischen Autorin sowohl die Verdrängung als auch die Erinnerung von Gewalt als gesamtgesellschaftliches Problem und als kollektive Aufgabe. Es geht um die ‘Aufarbeitung der Aufarbeitung’ einer rechten Vergangenheit und Gegenwart. Zuschauer des Prozesses werden zu Teilnehmern, indem der Roman sie wahlweise als uninteressiert oder selbstbezogen karikiert, durch ihre Stimmen aber auch Unterschiede zwischen Forderungen nach Gerechtigkeit und dem rechtsstaatlichen Anspruch des Verfahrens offenlegt. Rögglas stereotype Figuren mit Namen wie “Bloggerklaus” oder “Grundsatzyldiz” nerven reichlich, streckenweise ist der Text aber durchaus in der Lage, sprachliche Musikalität mit politischer Kritik zu verbinden:
“Wir werden also wie eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe der Zuhörenden und Weghörenden wirken, denn manchmal muss man auch weghören, manchmal muss man einfach abschweifen, denn die Dinge werden sich ja wiederholen. […] Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern. Aber jetzt geht es erst einmal darum, überhaupt in den Saal hineinzukommen.”
Historisch und literarisch weit entfernt wirken im Vergleich trotzdem die klassischen, an den Nationalsozialismus erinnernden ‘Aufarbeitungstexte’ der 1950er und 1960er: Etwa Christian Geisslers gerade wieder aufgelegter Debütroman Anfrage (Verbrecher Verlag 2023, zuerst Claassen 1960) aus den frühen 1960er Jahren, der den aufgeklärten Anspruch der Nachkriegsgesellschaft radikal in Frage stellte. Wie das Nachwort von Detlef Grumbach herausstellt, erschien das Buch auch beim Aufbau Verlag im Osten, obwohl sich Geissler durchaus auch als Kritiker des antifaschistischen Selbstbilds der DDR lesen lässt.
Natürlich geht es in Rögglas Gegenwartsroman aber um neue und subtilere Formen von Verdrängung nach den erinnerungspolitischen Umwandlungen in Folge der Sechziger im Westen. Noch weiter zurückblickend forderte Charlotte Gneuß dagegen neulich im FAZ-Interview “ein 1968 für unsere Ostgeschichte”. Damit eignete sie sich – vermutlich auch in Reaktion auf ostdeutsche Kritik an ihrem Buch – interessanterweise eine Sprache an, die wiederum sehr nah an der Erinnerungspolitik der Literatur der Baseballschlägerjahre ist.